Die ungenaue Gliedertaxe
Über die Entschädigung von Unfallopfern entscheidet bald der Bundesgerichtshof.
Erschienen in der FAZ vom 11.04.2011
10. April 2011 pik. FRANKFURT, 10. April. Wer als Fachfremder an die Versicherungsbranche gerät, kommt manchmal gehörig ins Staunen. Begriffe wie Sterbetafel oder Langlebigkeitsrisiko gilt es erst einmal zu verdauen, bevor man sich dann an die echten Brocken wie die Ausscheideordnung oder den Deckungsstock heranwagen kann. Nicht minder auffällig ist ein Begriff, mit dem sich in den verschiedenen Instanzen schon mehrere Gerichte befassen mussten und der nun auch den Bundesgerichtshof (BGH) beschäftigen wird: die Gliedertaxe.
Mit ihrer Hilfe bestimmen die Unternehmen, wie stark ein geschädigter Körperteil ein Unfallopfer beeinträchtigt. Einbezogen in die Taxe sind Arme, Beine und das Auge. Hinzukommen der Geschmacks- und der Geruchssinn und das Hörvermögen. Ist ein Bein über dem Oberschenkel vollständig funktionsunfähig, ergibt sich ein Invaliditätsgrad von 70 Prozent, dieselbe Quote gilt für einen Arm im Schultergelenk. Den Verlust des Geschmackssinns wertet die Assekuranz immerhin noch mit 5 Prozent. Der Invaliditätsgrad bestimmt, wie hoch der Anteil an der Versicherungssumme ist, die dem betroffenen privat Unfallversicherten ausgezahlt werden muss.
Diese Praxis ist seit Jahrzehnten üblich. Gutachterärzte kennen die Schwellenwerte und stufen Patienten, die von Unternehmen zu ihnen geschickt werden, entsprechend ein - häufig zugunsten des zahlungskräftigen Auftraggebers, wie Verbraucherschützer monieren. Doch die sonst so präzis formulierende Branche könnte nun möglicherweise über eine Ungenauigkeit stolpern. Denn die Allgemeinen Unfallbedingungen besagen, dass bei mehreren geschädigten Teilgliedern die Einzelschäden addiert und bei 100 Prozent gedeckelt werden müssen.
Der Buchholzer Fachanwalt Jürgen Hennemann vertritt zwei Mandanten, die ihren Versicherern vorwerfen, ihre Ansprüche in erheblichem Maß verkürzt zu haben. In einem Fall, den er vor dem Oberlandesgericht Hamm verloren hat, verklagte ein Betroffener die Allianz auf 550 000 Euro. Um diese Forderung zu veranschaulichen, rechnete Hennemann den Richtern vor, dass mehrere Teilglieder des Arms beschädigt seien: ein medizinischer Sachverständiger habe festgestellt, dass neben dem Arm im Schultergelenk auch das Ellenbogengelenk vollständig funktionsunfähig sei. Zudem kämen weitere Beeinträchtigungen am Handgelenk und an den Fingern. Aufaddiert ergebe sich eine Summe von 237 Prozent.
Nun war der Kläger nicht so vermessen, deshalb das 2,37-Fache der Versicherungssumme zu verlangen, da in der Klausel ausdrücklich eine Höchstgrenze bei 100 Prozent gezogen wird. Er verlangte stattdessen vielmehr das 5,5-Fache. Die Begründung: Mit der Allianz hatte sein Mandant einen Progressionszusatz vereinbart. Bei einem Invaliditätsgrad von mehr als 80 Prozent verpflichtete sich der Versicherer dazu, die Versicherungssumme von 110 000 Euro zu verfünffachen. Trotz des Deckels von 100 Prozent hat der Kunde den erforderlichen Invaliditätsgrad nach Hennemanns Logik weit überschritten. Die Richter wollten ihm aber nicht folgen und ließen auch keine Revision zu. Daraufhin legte der norddeutsche Anwalt Nichtzulassungsbeschwerde beim BGH ein.
Hennemann ist für die Assekuranz ein regelmäßiger Streitgegner. Gern setzt er den Streitwert seiner Fälle auf spektakulärer Höhe an. In einem anderen Verfahren fordert er für eine Mandantin von der Generali Versicherung eine Einmalzahlung von 7,25 Millionen Euro aus einer Autohaftpflichtpolice, weil der schwerbehinderten 23 Jahre alten Frau eine lebenslange Auseinandersetzung mit dem Versicherer nicht mehr zuzumuten sei. Um für die Sache zu streiten, setzte er sich mit deren Mutter sogar auf die Couch des Fernseh-Talkmasters Johannes B. Kerner.
Der Nichtzulassungsbeschwerde kann die Branche wohl gelassen entgegensehen. Parallel dazu aber erstritt Hennemann vor dem Wiesbadener Landgericht einen Erfolg. Dort folgte man einem ärztlichen Gutachter, der die Teilschäden des Betroffenen zu einem Invaliditätsgrad von 77 Prozent addierte. Das Pikante daran: Dieser Wert liegt über den 70 Prozent, den die Branche als Obergrenze versteht, weil sie den Schädigungsgrad des rumpfnächsten Gliedes, also des Arms im Schultergelenk, angibt. Mit der Berufung zog die Wiesbadener Interrisk vor das Frankfurter Oberlandesgericht. Dort aber vertraten die Richter die Auffassung, dass eine so schwerwiegende Frage nur rechtsdogmatisch vom BGH geklärt werden könne.
Die Interrisk will sich zu dem Fall nicht äußern. Ein Sprecher besteht allerdings darauf, es sei nicht sicher, ob der Fall zur Revision zugelassen sei, obwohl das im Urteil eindeutig so steht. Den Verbraucherschützern vom Bund der Versicherten dagegen geht Hennemanns Interpretation eindeutig zu weit. "Es kann nicht sein, dass durch die Addition bei fast jedem Unfall der höchste Invaliditätsgrad vorliegt", sagt deren Vorstand Thorsten Rudnik. Die private Unfallversicherung biete schon für 10 Euro monatlichen Beitrag einen Versicherungsschutz über 200 000 Euro. Das sei nicht aufrechtzuerhalten, wenn die Versicherer ihre Schäden anders regulieren müssten. Die Progressionsvereinbarungen dienten zwar häufig dazu, von einem ungenügenden Grundschutz abzulenken. Die Vertragsklausel sei aber so zu verstehen, dass nur dann addiert wird, wenn mehrere Glieder - also zusätzlich zum Arm etwa auch das Bein und das Auge - betroffen seien.
Rechtsanwalt Hennemann indes hält an seiner Sichtweise fest. "Wenn im Vertrag stehen würde, dass der Invaliditätsgrad für einen kaputten Arm niemals über 70 Prozent liegen darf, würde es diese Klage nicht geben", sagt er. In neueren Verträgen hätten viele Versicherer das inzwischen auch korrigiert. Zuvor aber seien Kunden systematisch um Ansprüche gebracht worden, meint er.
Text: F.A.Z.