Samstag, den 31. Januar 2004 um 00:00 Uhr
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David gegen Goliath

Wer einen Unfall erleidet, kann nicht davon ausgehen, dass seine Versicherung hält, was sie verspricht: Über die „Kreativität“ deutscher Versicherer bei der Verschleppung oder Verweigerung von Entschädigungsansprüchen.

Von Jürgen Hennemann

Erschienen in "Doppelpfeil", dem Unternehmensmagazin des Südwestrundfunks, im Januar 2004

Es war Sonntagnachmittag auf einer idyllischen Landstraße, als sich das Leben des 42-jährigen Vertriebsleiters Harry B. von Grund auf ändern sollte: In einer Kurve verlor der ihm entgegenkommende junge Fahrer eines VW Golf die Kontrolle über sein Fahrzeug, geriet auf die Gegenfahrbahn und prallte frontal auf den BMW von Harry B. Rettungskräften gelang es erst nach einer Stunde, ihn mit Schneidbrennern aus dem Wrack des vollständig zerstörten Autos zu befreien. Eingeklemmt mit seinem rechten Bein hatte er viel Blut verloren. Die später in der Unfallklinik gestellte Diagnose beschreibt das Ausmaß der Verletzungen: Schädel-Hirntrauma zweiten Grades, Brüche mehrerer Rippen und des Schlüsselbeins sowie eine Trümmerfraktur des rechten Unterschenkels. Während die Heilung in den folgenden Wochen und Monaten überwiegend positiv verlief, kam es im Bereich des Unterschenkels zu lebensgefährlichen Wundheilungsstörungen und postoperativen Infektionen. Sie führten schließlich dazu, dass der rechte Unterschenkel amputiert werden musste. Dank seines Arbeitgebers ist es Harry B. nach etwa eineinhalb Jahren gelungen, an seinen (alten) Arbeitsplatz zurückzukehren. Er wird jedoch niemals wieder in seiner Vereins-Fußballmannschaft als rechter Verteidiger spielen. Und was ihn seelisch noch stärker belastet: Niemals wieder wird er seinen beiden fußballbegeisterten Söhnen zeigen können, wie man einen Eckstoß hoch in den Strafraum tritt.

Als Harry B. schließlich die Kraft hatte, seine Haftungs- und Entschädigungsansprüche gegenüber den betroffenen Versicherern geltend zu machen, hatte er keine Ahnung, auf welche Art und Intensität der Auseinandersetzung er sich da eingelassen hatte. Er ging davon aus, dass renommierte Versicherungsunternehmen, die sich allabendlich besonders in den TV-Werbespots der Privatsender darin überbieten, umfassenden Schutz, Wärme und Fürsorge gerade jungen Familien zu gewähren, gegenüber seiner besonderen Problematik aufgeschlossen sein würden. Ein grundlegender Irrtum! Nach Geltendmachung seiner Ansprüche gegenüber dem KFZ-Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers tat dieser das, was Haftpflichtversicherer seit ewigen Zeiten tun: ausnahmslos unbegründete und absurde Einwände gegen den Haftungsgrund und die Haftungshöhe zu erheben. Demnach sollte Harry B. den Unfall mit verursacht haben, wobei der gegnerische Haftpflichtversicherer die Haftungsquote offen lässt und auch nicht sagt, welchen Vorwurf er konkret gegen Harry B. erhebt. Begründet wird dies mit angeblich unklaren polizeilichen Ermittlungsergebnissen, aus denen nicht eindeutig hervorgehe, wie es zu dem Unfall genau gekommen sei.

Erst bei späterer Überprüfung der amtlichen Ermittlungsakte durch den inzwischen eingeschalteten Rechtsanwalt von Harry B. stellte sich heraus, dass der gegnerische KFT-Haftpflichtversicherer versucht, eindeutige polizeiliche Ermittlungsergebnisse zu relativieren, dass er eindeutige Aussagen unbeteiligter Zeugen ignoriert und haftungsrechtliche Wertungen vornimmt, die einer objektiven Überprüfung nicht standhalten. Zudem beanstandet der KFZ-Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers mit offensichtlich standardisierten Begründungen die Höhe des von Harry B. geltend gemachten Schmerzensgeldes, den Erwerbsausfall-Schaden, den Haushaltsführungs-Schaden sowie alle sonstigen Schadenpositionen. Fundierte ärztliche Gutachten werden dabei ebenso in Zweifel gezogen wie Verdienstbescheinigungen des Arbeitgebers.

Diese Taktik der Haftpflichtversicherer ist ebenso traditionell wie effektiv: Mit Eingang der Schadenmeldung soll die Schadenbearbeitung und Entschädigung gezielt verschleppt und auf diese Weise der Faktor Zeit zermürbend wie effektiv gegen den Geschädigten eingesetzt werden. Mit dem Ziel, ihn im Idealfall zur vollständigen Aufgabe seiner Ansprüche zu bewegen oder ihn in einen dem Versicherer genehmen, für den Geschädigten aber inakzeptablen Abfindungsvergleich zu zwingen. Bei Harry B. ist diese Taktik nicht aufgegangen, da er gegen den KFZ-Haftpflichtversicherer des Unfallverursachers Haftungsklage erhoben hat. Soweit Teil eins des Dramas, das Harry B. erlebte.

Teil zwei des Schmierenstücks spielt auf der Ebene der privaten Unfallversicherung. Seit über zehn Jahren ist Harry B. be einem renommierten Assekuranzunternehmen versichert und glaubte, zusammen mit seiner Familie gegen Schicksalsschläge der eingetretenen Art abgesichert zu sein. Doch auch hier verkannte er grundlegend die Kreativität, die Versicherer bei der Verschleppung oder Verweigerung von Entschädigungsansprüchen entfalten. So glaubte Harry B. zunächst an einen schlechten Scherz, als der Brief mit der Ablehnungsbegründung seines privaten Unfallversicherers bezüglich seiner Schadenmeldung im Briefkasten lag. Immerhin bestätigte ihm sein privater Unfallversicherer, dass Harry B. durch den Verlust seines rechten Unterschenkels einen Dauerschaden und damit einen Invaliditätsstatus erlangt habe. Doch leider werde dieser Invaliditätsstatus vom Deckungsschutz der privaten Unfallversicherung nicht erfasst, da dieser Dauerschaden nicht unfall-, sondern krankheitsbedingt entstanden sei.

Im Klartext: Nicht der Verkehrsunfall, sondern die langjährige Diabetes von Harry B. habe den Verlust seines Unterschenkels verursacht. Denn Stoffwechselerkrankungen, zu denen auch Diabetes gehört, würden nach medizinischen Erkenntnissen Wundheilungsstörungen und Infektionen verursachen und fördern. Fazit der Ablehnungsbegründung: Wäre Harry B. nicht Diabetiker, hätte der Verkehrsunfall auch nicht zu dauerhaften Beeinträchtigungen geführt. Harry B. war somit gezwungen, in einem weiteren Rechtsstreit auch Klage gegen seinen privaten Unfallversicherer zu erheben.

Während jedoch Haftpflichtversicherer ihre Entschädigungspraxis in den vergangenen Jahren zumindest nicht grundlegend geändert haben, ist bei den Personen- und Sachversicherern die deutlich härtere Gangart bei der Schadenbearbeitung seit etwa zwei Jahren erkennbar. Dies resultiert letztlich aus der historisch beispiellos schlechten Wirtschaftslage, in der sich zurzeit nahezu alle deutschen Versicherer befinden. Innerhalb der großen Versicherungsgruppen sind es insbesondere die Lebensversicherer, die in jüngster Vergangenheit entweder ins Wanken geraten oder, wie die Mannheimer Versicherung, zahlungsunfähig wurden.

Der Grund dafür sind jedoch keineswegs die Versicherungsnehmer, Opfer oder Geschädigte, die trotzdem die Auswirkungen der beispiellosen Sanierungsbemühungen der Versicherer zu spüren bekommen. Der Grund ist ausschließlich extern zu suchen: Einflüsse wie beispielsweise die Folgen der Anschläge vom 11. September 2001, die die internationale Versicherungswirtschaft mit geschätzten 50 Milliarden US-Dollar belastet haben, sowie hausgemachte Managementfehler, für die ausschließlich die Versicherer selbst verantwortlich sind. So ist es den selbst ernannten Kapitalanlage-Experten der Versicherer durch leichtfertiges und dilettantisches Agieren an den internationalen Kapitalmärkten gelungen, zum Nachteil ihrer Versicherten ein Beitragsvermögen in unvorstellbarer Höhe zu vernichten. Darüber hinaus leiden die Versicherer noch heute unter den Folgen eines bis dahin beispiellosen Prämienverfalls, den die Branche nach der Deregulierung des deutschen Versicherungsmarktes 1994 selbst initiiert und in den darauffolgenden Jahren buchstäblich bis zum Exodus betrieben hat. Und schließlich hat es die Assekuranz – anders als beispielsweise die Banken – bis zum heutigen Tag nicht verstanden, sich strukturell auf die weltweit drastisch veränderten Marktbedingungen einzustellen. All diese Ursachen sind jedoch weder isoliert, noch in ihrer Summe geeignet, das gegenwärtige Verhalten der Versicherer gegenüber Kunden, Opfern und Geschädigten zu legitimieren.

Nicht übersehen werden darf ferner, dass auch die Mängel des deutschen Haftungs- und Versicherungsrechts dieses Verhalten fördern. So existieren im Versicherungsvertragsgesetz an zahlreichen Stellen zugunsten der Versicherer Regelungen, die es ihnen erlauben, selbst bei unbedeutend erscheinenden Nachlässigkeiten ihrer Kunden Leistungen mit der rechtlichen Keule einer behaupteten Obliegenheitsverletzung zu verweigern. Im Gegensatz dazu existiert im gesamten deutschen Recht einschließlich der versicherungsrechtlichen Spezialregelungen keine einzige Vorschrift, dass Versicherer bedingungsgemäße Regulierungen und Entschädigungen schnellstmöglich zu erledigen haben. Die Folge: Das deutsche Recht sieht also auch kein klar definiertes Druckmittel für den Fall vor, dass Versicherer begründete Entschädigungsansprüche regelmäßig über Jahre verschleppen – oder ganz verweigern.

Ganz anders das zumeist als pauschal und undifferenziert gescholtene amerikanische Haftungs- und Versicherungsrecht. Bei Blockade oder Verschleppung von Entschädigungsleistungen sichert es Geschädigten einen gesonderten, dem moralischen Unwert des Verhaltens Rechnung tragenden Schadenersatzanspruch gegenüber Versicherern zu. Dieser Anspruch auf so genannte „punitive damages“ resultiert aus der großen Bedeutung, die der Schutz von Geschädigten und Opfern in der amerikanischen Rechtsordnung genießt. Dies führt dazu, dass vergleichbare Schadensfälle in den USA zum Vorteil von Opfern und Geschädigten regelmäßig schnell außergerichtlich erledigt werden – während selbst Schwergeschädigte hierzulande von den Versicherern oftmals über Jahre außergerichtlich und gerichtlich ohne wirkliches Sanktionsinstrument des deutschen Haftungsrechts buchstäblich vorgeführt werden. Vor diesem Hintergrund ist es bedauerlich wie bemerkenswert zugleich, dass auch das sich derzeit in der Überarbeitung befindliche Versicherungsvertragsgesetz zu keiner nennenswerten Verbesserung der rechtlichen Situation für Versicherungsnehmer, Opfer und Geschädigte führen wird. Bereits bei einem Blick in die personelle Zusammensetzung der ministerial eingesetzten Expertenkommission verwundert dies jedoch nicht, da dort die Lobbyisten der Versicherungswirtschaft eine erdrückende Mehrheit haben. Somit sind ausgewiesene Verbraucherschützer in dieser Kommission auch nur als „Feigenblatt“ mit einer kaum vernehmbaren Minderheit vertreten. Einmal mehr führt dies zu der Erkenntnis, dass Wirtschaftslobbyisten auch in einer vermeintlich starken Demokratie zentral und entscheidend Ministerialentscheidungen beeinflussen.

Daher mag es für die Betroffenen lediglich ein schwacher Trost sein, dass wenigstens der Bundesgerichtshof und die meisten Oberlandesgerichte bemüht sind, die Rechte von Versicherungsnehmern, Opfern, Geschädigten und Verbrauchern zu verbessern. So ist es heute herrschende Rechtssprechung – zumindest der meisten Oberlandesgerichte -, dass Schmerzensgeldbeträge zugunsten der Geschädigten dann teils drastisch erhöht werden, wenn Versicherer Entschädigungen mit abwegiger Begründung verweigern oder verschleppen oder eine unvertretbare Rechtsposition als Vorwand für die Verzögerung über längere Zeit aufrechterhalten.

Auch haben die meisten Gerichte heute die prozessentscheidende Bedeutung medizinischer Sachverständiger bei Haftpflicht- und privater Unfallversicherung erkannt. Den Gerichten ist nicht verborgen geblieben, dass insbesondere im Bereich der privaten Unfallversicherung Rechtsmissbrauch buchstäblich an der Tagesordnung ist. So nutzen solche Unfallversicherer gerne Versicherungsbedingungen, die ihnen das Recht geben, Versicherte zu medizinischen Untersuchungen an von ihnen ausgewählte Ärzte zu verweisen. Sie bedienen sich dabei mit Vorliebe so genannter privater Gutachterinstitute, die teils von der Versicherungswirtschaft selbst gegründet wurden oder sich in vollständiger wirtschaftlicher Abhängigkeit von deren Aufträgen befinden. Entsprechendes gilt auch für die Durchgangsärzte der Berufsgenossenschaften. Im Interesse ihrer Auftraggeber, der Versicherungswirtschaft, dienen diese ärztlichen Gutachter einzig dem Zweck, typische posttraumatische Krankheits- und Verletzungsbilder von zuvor beschwerdefreien Personen in angeblich endogene, das heißt bereits existierende, oder degenerative, das heißt krankheitsbedingte, Erscheinungen umzudeuten. Daher ist es begrüßenswert, dass sich inzwischen viele Gerichte bemühen, die für einen fairen zivilen Entschädigungsprozess unverzichtbare Neutralität von medizinischen Gerichtsgutachtern zu gewährleisten.

Dennoch sollten Opfer und Geschädigte bereits in einem möglichst frühen Stadium entscheiden, wie sie ihren mächtigen Gegnern in der Versicherungswirtschaft entgegentreten: indem sie ihre Ansprüche möglichst durch flankierende Gutachten fachkundiger und neutraler Ärzte untermauern. Es muss jedoch klar sein, dass wirkliche Waffengleichheit in der Auseinandersetzung mit hoch spezialisierten Schadenabteilungen der Versicherer nur herstellbar ist, wenn sich Versicherungsnehmer, Opfer wie Geschädigte, der Hilfe von Spezialisten wie Fachanwälten bedienen. Geht der Betroffene darüber hinaus noch der Frage nach, ob und inwieweit sein Rechtsanwalt oder die Kanzlei, in der dieser tätig ist, Mandanten aus der Versicherungswirtschaft berät, so hat er die wesentlichen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Wahrnehmung seiner eigenen Interessen gegenüber den Versicherern erfüllt.

Jürgen Hennemann ist Rechtsanwalt in Buchholz bei Hamburg mit Schwerpunkt im Haftungs- und Versicherungsrecht.